Katalogtext zur Ausstellung "Le vent me portera" von Lilian Engelmann (english see below)


Was den Umgang mit Fotografie wohl so schwer und verwirrend machen kann, ist die Tatsache, dass sie dokumentarisch, inszeniert und künstlerisch zugleich sein kann. Der dokumentarische Aspekt, der eng mit der Konstruktion von Realität verbunden ist, hat den Gebrauch des Mediums lange Zeit dominiert. Bei journalistischen Fotoreportagen, bei privaten Bildern aus dem Urlaub oder von Geburtstagen, bei kriminalistischen oder wissenschaftlichen Aufnahmen ist der wirklichkeits- abbildende Aspekt vorrangig; zugleich überlagert dies die Möglichkeit, das fotografische Medium als eigenständige Bildgattung zu begreifen. Die kunstfotografischen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts haben versucht, auf diesen eingeengten Fotografiebegriff mit der subjektiven und darstellenden Fotografie zu reagieren. So hielt Otto Steinert, einer der Wegbereiter der subjektiven Fotografie fest: „Der bedeutungsvolle Schritt von der darstellenden Abbildung zur darstellenden fotografischen Gestaltung erfolgt, wenn der Gegenstand, das Motiv, nicht mehr um seiner selbst willen aufgenommen, es vielmehr von seiner Eigenbedeutung zum Objekt der Gestaltungsabsicht herabgesetzt wird. Es entsteht in produktiver Umsetzung und in Verdrängung der nur fotografischen Konkretisierung des Gegenstandes, das Bild von der Vorstellung des Menschen von diesem Gegenstand und von seinen Beziehungen zu ihm.“
Die Arbeiten von Anette Babl erweisen sich insofern als selbständige fotografische Bilder, als sie die von ihr festgehaltenen Objekte und Situationen aus ihrer alltäglichen Existenz herauslöst und sie zu eigenen bildnerischen Ereignissen werden lässt, denen eine Repoetisierung der Welt innewohnt. Sie beschäftigt sich in ihren Serien mit der kulturellen Bedeutung des fotografischen Abbildes, indem sie die Technik des Mediums und die Möglichkeiten der Bildherstellung reflektiert. Dabei gelingt es ihr, eine kühle Bildanalyse mit suggestiven Bildern zu verbinden.
In der Serie Mental Landscapes sind unter anderem Detailaufnahmen von verrosteten Bootswänden und kaputten Häuserfassaden zu sehen; der eigentlich fotografierte Gegenstand spielt jedoch keine Rolle, und ist vom Betrachter wohl auch kaum zu erkennen. Das abgebildete Objekt scheint sich gerade durch die Fokussierung auf ein Detail, wie etwa die Strukturen von Rost oder sich ablösende Farbschichten, regelrecht zu entmaterialisieren. Die Kamera bei Babl arbeitet gleich einem Mikroskop: Der Betrachtende bekommt etwas zu sehen, das ihm in der alltäglichen Wahrnehmung meist entgeht. Was das Objektiv vollzählig erfasst und beiläufig verkleinert hat, erscheint auf ihren Abzügen nun wieder vergrößert.

Mental Landscapes verweist durch den Titel auf die Annahme, dass das menschliche Gehirn Informationen über Räume oder Landschaften in landkartenähnliche Bilder umsetzen kann. Dabei werden zum einen komplexe Realitäten vereinfacht, d.h. in der Erinnerung werden nur bestimmte Gegenstände aufgerufen, zum Beispiel ein besonderer Baum und nicht alle Bäume, die tatsächlich innerhalb einer Landschaft existieren. Zum anderen wird die erinnerte Landschaft oftmals mit angenehmen oder unangenehmen Vorstellungen von ihr belegt. Mentale Landschaften sind deshalb von tatsächlich existierenden sehr abweichend, da sie über die konkreten Gegebenheiten hinaus auch geistige, nur der Vorstellung entspringende Informationen beinhalten. Durch die Titel, die Babl ihren Bildern gibt, verstärkt sie eben jene Vorstellungskraft, durch die auch der bilderzeugende Charakter ihrer Motive hervorgehoben wird. So können die rostigen Stellen, die in den Bildern Walk unafraid und Direction (Abb. 1+7) zu sehen sind, den Betrachter an Höhlenzeichnungen erinnern und zugleich laufende, den Weg weisende Strichmännchen darstellen. Bilder wie Polly (Abb. 8) hingegen erinnern an Aufnahmen der Erde aus dem All oder erscheinen wie die Oberfläche eines alten Walfisches.
Der Schein trügt, heißt es umgangssprachlich; und gemeint ist damit, dass Oberflächen etwas Negatives anhaftet und dass sie in die Irre führen können. Im Gegensatz dazu wird das Wesentliche, das Essentielle oder der Kern der Dinge häufig mit Bedeutung und Inhalt verbunden. In vielen ihrer Fotografien zeigt Babl Oberflächen, die bei ihr allerdings als ästhetische Phänomene begriffen werden sollen, die nicht vom Inhalt ablenken, sondern diesen erst prägen und ihm eine sinnliche Dimension verleihen. Für Mental Landscapes bedeutet dies, dass sich unter den Oberflächen auch Verfall, Verletzungen und die Bedrohung des Verschwindens andeuten. Die Bildserie entstand auf Reisen durch verschiedene Länder, darunter Kroatien. Die Aufnahme mit dem Titel Recovering (Abb. 10), die eine Art rostige Narbe zeigt, bekommt mit diesem Wissen eine weitere mögliche Bedeutung; so könnten sich hier Spuren des fast fünfjährigen Bürgerkrieges andeuten.

Bei der Bildserie Mover handelt es sich um Ausblicke auf urban geprägte Landschaften, die während Zugfahrten entstanden. Durch die Bewegung des Zuges, die Reflexionen des Innen- und Außenraumes des Abteils auf der Fensterscheibe und die milchigen Schlieren, sind die Ausblicke jedoch unscharf bzw. überlagern sich die Motive in den Bildern. Während bei den heutigen fototechnischen Entwicklungen, etwa in der Digitalfotografie, die Schärfe als Gradmesser für technischen Fortschritt steht, galten Unschärfe oder Mehrfachbelichtungen seit Anbeginn der Fotografie als ein künstlerisches Mittel des Mediums. So hielt der amerikanische Fotohistoriker Aaron Scharf in „Art and Photography“ (1968) fest, dass im 19. Jahrhundert die Bewegungsunschärfe auf Fotos nicht als Mangel wahrgenommen wurde, sondern Teil der visuellen Erfahrung war. Bildunschärfen galten damals als ein probates Mittel, die Momenthaftigkeit optischer Wahrnehmung und die rasante Beschleunigung des modernen Lebens wiederzugeben.
Durch die bewusste Herbeiführung von Unschärfen und Bildüberlagerungen in der Serie Mover betont Babl den fotografischen Moment. Wobei hiermit nicht die „Poetik des Augenblicks“, wie es Cartier-Bresson formuliert hat, gemeint ist, da die Motive bei Babl sehr wohl sorgfältig ausgewählt wurden und sie die Kontrolle über die Komposition behält. Ihre Bilder betonen das konstruierte und hergestellte fotografische Abbild und weisen deshalb auch eine Analogie zu anderen bildnerischen Prozessen wie beispielsweise der Malerei auf. Für den Betrachter stellt sich bei Mover die Frage, welche Bildschicht er zuerst wahrnimmt, und ob es bei den einzelnen Bildebenen Hierarchien gibt. Verfolgt man beispielsweise bei dem Bild K1 (Abb. 14) die Formen und Anordnungen der milchfarbenen Schlieren oder schaut man zuerst auf die Fassade des Hauses? Anders als noch im 19. Jahrhundert, ist es nicht die Welt selbst, die sich durch Motorisierung und Elektrifizierung beginnt zu bewegen. Heute sind es auch die Unmengen an Bildern, die täglich von allen Orten produziert werden und durch Datenströme und Printmedien zur Verfügung stehen, die eine Art Überbelichtung, ein Verwischen der Welt erzeugen können. Die Masse an Bilddaten schafft nicht ausschließlich einen größeren Überblick, sondern kann sich auch in dessen Gegenteil umkehren: das Bild der Welt wird, wie in der Aufnahme Faster than life (Abb. 20), überreflektiert. Die Lesbarkeit der Welt – eines der ältesten Versprechen der Fotografie – scheitert an den voneinander losgelösten und in keinem Zusammenhang stehenden Bildebenen in der Serie. Der Betrachter schmiert, wie die Flüssigkeit an den Scheiben, an diesen Fotos regelrecht ab.

Die reale Welt taucht auch in der Bildserie Zéphyr nur noch als verschwommenes oder abstraktes Motiv auf. Es finden sich ozeanische Strukturen gepaart mit verzerrten Spiegelungen von Schiffselementen oder etwa Fragmente eines tief abgesunkenen, veralgten Kinderwagens wieder. Durch die Bewegung des Wassers scheinen sich die Konturen der Gegenstände aufzulösen und in größere und kleinere Farbflächen zu zerlaufen. Dadurch entsteht der Eindruck, dass sich das fotografische Abbild in ein malerisches Bild transformiert. In der Malerei sollte die Kunst durch die Abstraktion von der Aufgabe der Abbildung der Realität befreit und somit die Autonomie der Kunst betont werden. Die Fotografie hingegen ist aufgrund ihrer Technik auf das „dagewesene“ angewiesen und damit immer an eine äußere Realität gebunden. Durch die Verbindung von abstrakten, aus der Malerei bekannten Motiven mit der Aufnahmetechnik des Fotoapparates entsteht ein interessantes Spannungsfeld, das es dem Betrachter ermöglicht, sowohl eine neue Vorstellung über das Bild als auch über die Abbildhaftigkeit der Welt zu erhalten.



Catalogue text on the occasion of the exhibition "Le vent me portera" by Lilian Engelmann


What can make approaching photography so difficult and confusing is probably the fact that it can be at once documentary, staged and artistic. The documentary aspect, which is closely linked to the construction of reality, has long dominated in the use of the medium. In photojournalism, private holiday snaps or birthday shots, criminological or scientific photographs the ability of photography to depict reality is paramount; at the same time this undermines the possibility of understanding the photographic medium as an independent visual genre. The art photography movements of the 19th and 20th centuries attempted to respond to this constricted understanding of photography with subjective and representational photography. Otto Steinert, one of the pioneers of subjective photography, noted thus: “The significant step from representational depiction to creative representational photography comes when the subject, the motif, is no longer shot for its own sake, but is demoted from its own meaning to the status of an object of the design intention. This is achieved by employing this productively and avoiding a mere photographic concretization of the object–the image of the person’s idea of this object and its relations to him.”
As such, Anette Babl’s works prove to be independent photographic images. The artist extracts the objects and situations she photographs from their quotidian existence and allows them to become independent visual occurrences, in which a repoeticization of the world is inherent. In her series, the artist explores the cultural significance of the photographic image by considering the technique of the medium and the possibilities of image creation. As such, she successfully combines sober image analysis and suggestive images.
In the series Mental Landscapes we see, among other things, close-ups of rusty boat hulls and broken building façades, yet the object actually photographed is irrelevant, and moreover the observer can hardly identify it. Precisely owing to the focus on a detail, such as the structures of rust or layers of paint peeling off, the object depicted literally seems to dematerialize. Babl’s camera works in a similar way to a microscope: it shows the observer something that he generally fails to perceive in everyday life. That which her lens fully captures and, incidentally, minimizes, appears enlarged again on her prints.

The title Mental Landscapes refers to the assumption that the human brain is able to translate information on spaces or landscapes into maplike images. Yet on the one hand complex realities are simplified, i.e., we only remember certain objects, for instance a particular tree and not all the trees existing in a landscape. On the other hand the landscape we remember is often overlaid with pleasant or unpleasant ideas of it. Thus mental landscapes differ greatly from actually existing ones, as they also contain, beyond the concrete facts, mental information that stems only from our imagination. Babl uses the titles she gives her pictures to strengthen precisely that power of imagination, which also serves to emphasize the image-forming character of her motifs. Thus, for instance, the rusty spots visible in Walk unafraid and Direction (plate 1+7) can serve to remind the observer of cave paintings and at the same time represent running stick figures that are showing the way. Pictures such as Polly (plate 8), in contrast, call to mind shots of Earth from space or look like the surface of an old whale.
Appearances are deceiving, so they say, meaning that there is something negative about surfaces and that they can lead us up the garden path. In contrast, the essence or core of things is frequently associated with meaning and content. In many of her photographs Babl shows surfaces that here, however, are intended to be seen as aesthetic phenomena, that do not detract from the content, but indeed inform it and lend it a sensory dimension. For Mental Landscapes this means that decay, damage and the threat of disappearance are also lurking under the surfaces. The artist produced the series when traveling through a number of countries, including Croatia. With this knowledge, the shot entitled Recovering (plate 10), showing a kind of rusty scar, assumes a further possible meaning, namely, it could be alluding to traces of the civil war, which lasted almost five years.

The series Mover features views shot on train journeys of urban-influenced landscapes. Yet owing to the movement of the train, the reflection of the inside and outside of the compartment on the window pane and the milky streaks, the views are blurred or the motifs in the pictures overlap. While with today’s developments in photographic technology, for instance in digital photography, sharpness is seen as an indicator of technical progress, since the dawn of photography blurred outlines or multiple exposures have been considered one of the medium’s artistic means. The American photography historian Aaron Scharf noted in “Art and Photography” (1968) that in the 19th century motion blur on photos was not perceived as a defect, but was part of the visual experience. Back then, blurring was seen as a suitable means of depicting the fleetingness of visual perception and the rapid acceleration of modern life.
By deliberately causing blurring and overlapping in her series Mover, Babl emphasizes the photographic moment. Although here we are not referring to the “poetry of the moment”, in the words of Cartier-Bresson, as Babl no doubt carefully selected her motifs, and she maintains control of the composition. Her pictures emphasize the constructed and manufactured photographic image and thus also bear an analogy to other visual processes, such as painting. For the observer of Mover the questions arise, which image layer he perceives first and whether there are hierarchies in the individual layers. For example, when viewing K1 (plate 14) do we first trace the shapes and patterns of the milky streaks or look at the building façade? Unlike in the 19th century, it is not the world itself that starts moving by means of motorization and electrification. Today it is also the floods of images that are produced all over the world on a daily basis and made available through the Internet and print media that can lead to a kind of overexposure, to a blurring of the world. The masses of image data do not just give us a greater overview, but can also have the opposite effect: as in Faster than life (plate 20), the image of the world is overreflected. The series’ layers of distinct separate images, detached from each other and unrelated, make it impossible for us to read the world, although that was one of photography’s oldest promises. Like the rain on a window pane, we remain on the outside looking in.

In the series Zéphyr too, the real world only appears as a blurred or abstract motif. It features oceanic structures coupled with distorted reflections of ship details, or, for instance, fragments of a sunken stroller deep in the ocean, covered with algae. With the movement of the water, the outlines of the objects appear to dissolve and fuse into larger and smaller areas of color. This gives rise to the impression that the photograph is transforming into a painting. In painting, the idea is that art is liberated by abstracting from the task of representing reality and thus the autonomy of art emphasized. In contrast, owing to its technology photography is reliant on the object “having actually existed” and as such is always bound to an external reality. Combining abstract motifs from the world of painting with the camera’s photographic technology creates an interesting field of tension, which enables the observer to gain a new idea both of the image and the ability of the world to be depicted.

translated by Jeremy Gaines

 

 
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